Tagesbericht vom 21.06.2004
Position Nord 45° 25' 12.6“ und Ost 47° 10' 40.9“, zwanzig Meter unter dem Meeresspiegel (!). Nein, nein, Sir James ist nicht versoffen, weder im Kaspischen Meer, das nur etwa zwanzig Kilometer von unserem heutigen Rastplatz entfernt ist noch vom vielen Wasser, das wir während der ganzen Nacht und auch heute morgen noch in Sir James gepumpt haben. (Wir fahren nun wieder mit 160 Litern Frischwasser an Bord durch die Gegend.) Aber dazu komme ich noch.
Zuerst zwei Bemerkungen zu gestern. Erstens: Derweil ich fahre, schreibt Bobo oft schon am Reisebericht. So kommt es, dass er Verschiedenes nicht mitbekommt. Dass er nicht alle Polizisten am Strassenrand sieht, ist ja egal. Aber er hat auch nicht bemerkt, dass uns die beiden deutschen Motorradfahrer winkend überholt haben. Zweitens: Gestern haben wir unseren ersten Hitzetag erlebt. Das Aussenthermometer stieg auf 32 Grad Celsius. Dank Aircondition hatten wir es im Sir James angenehm kühl.
Nun zum heutigen Tag. Wir stehen gegen 7:30 Uhr auf. Das Wasser tröpfelt immer noch ganz langsam in den Frischwassertank. Bobo und ich sind uns einig. Wahrscheinlich ist der Keramikfilter verstopft. Bobo kommt nicht darum herum, den Filter auszubauen. Tatsächlich, der Filter ist total verschlammt. Die Nagelbürste hilft mir, ihn zu reinigen. Und siehe da, nach dem Wiedereinbau des Filters fliesst das Wasser (fast) in Strömen. Gegen 11:00 Uhr brechen wir mit Wasser vollgetankt auf.
Leider haben wir von dieser Gegend keine Detailkarte mehr, sondern nur die globale Weltkarte im Massstab 1:4 Mio. Und schon sind wir aufgeschmissen. Wir wollen nach Astrachan. Aber die Strasse, auf der wir fahren, führt in eine ganz falsche Richtung. Wir fragen die Polizei am Strassenrand, die eigentlich uns ausfragen will. Wir fragen einen Mann in einem Dorf. Aber die Leute bedeuten uns, dass unsere Karte nicht stimme. Und dass die Strasse, die wir befahren möchten, nicht existiere. Wir nehmen daher einen grösseren Umweg in Kauf. Wir kommen an einen Kontrollpunkt. Und was steht da? Ein Toyota Landcruiser, wie Sir James einer ist, vom Roten Kreuz, mit Genfer Kennzeichen. Wir halten nicht an, denn das scheint uns direkt vor einem Posten nicht sehr sinnvoll. Der Inspektor fragt uns, ob wir nach Dagestan wollten. Nein, nicht nach Dagestan, ist unsere Antwort, sondern nach Astrachen. Er lässt uns passieren. „Nein“, sag ich zu Bobo, „sicher wollen wir nicht durch Dagestan fahren. Das wäre viel zu gefährlich.“ Ich lese ihm die entsprechende Stelle aus dem Lonely Planet vor: „Lonely Planet strongly advises against travel in Dagestan. Foreigners especially run a high risk of being held hostage for ransom.” Bobo meint beruhigend: “Nein, nein, wir fahren nicht nach Dagestan, wir fahren nur durch!“ Ich beharre darauf, umzukehren. Aber da kommt schon wieder ein Kontrollposten. Ich frage den Beamten, ob der Weg nach Astrachan durch Dagestan gefährlich sei. Zuerst versteht er mein Russisch nicht, doch dann meint er: „Njet, very good“. Ich bin beruhigt. Und gefährlich kann es hier auch kaum sein. Wir fahren durch eine Tiefebene (Depression, wie mich Bobo belehrt), durchschnittlich etwa zwanzig Meter unter dem Meeresspiegel. Alles ist flach. Eine riesige Einöde. Kein Baum, kein gar nichts.
Vereinzelt sehen wir einen Bauernhof, etwa einen Kilometer von der Strasse entfernt. Kaum ein anderes Auto fährt diese Strecke, hie und da nur ein Lastwagen. Verkaufstände an den Strassen gibt es nicht. Einen Vorteil hat diese Landschaft: es gibt auch keine Polizisten, die sich irgendwo hinter Bäumen, Häusern oder anderen Auto verstecken könnten. Wir fahren einen kleinen Teil unserer heutigen Tour durch Dagestan ohne Probleme. Gefährlich würde es wahrscheinlich erst mehr im Süden. Aber dorthin wollen wir beide definitiv nicht. Die wenigen Polizeiposten, die wir antreffen sind sehr freundlich. Sie helfen uns, uns zu orientieren. Beamte an zwei verschiedenen Posten zeichnen uns den Weg sogar auf. Dumm ist nur, dass sie sich nicht einig sind. Wegen der vielen Umwege, die wir heute gefahren sind, kommen wir nicht bis nach Astrachan, sondern lediglich bis Position Nord 45° 25' 12.6“ und Ost 47° 10' 40.9“ die irgendwo in der Steppe im „Nowhere“ liegt. Wir sind noch beim Nachtessen draussen an unserem Tisch, als wir Pferdegetrampel hören. Da kommt ein Kosake hoch zu Pferd, begleitet von einem Füllen, herangeritten. Im Vorbeireiten begrüsst er uns. Wir grüssen zurück und sagen, wir seien Schweizer. Er gibt dem Pferd die Sporen, galoppiert weiter und irgendwann später entschwindet er am Horizont. Alles geht so schnell, dass wir nicht einmal eine Foto machen können. Schade.