Tagesbericht vom 07.06.2004
Wir haben im Sir James am Rande eines freien Feldes wunderbar geschlafen. Bobo wird von den ersten Sonnenstrahlen geweckt: 05:30 Uhr! Gestern abend hat Bobo noch bis spät in die Nacht gearbeitet. Er hat den Wochenbericht E-Mail fertig vorbereitet und einige russische Karten, die er noch zu Hause vom Internet heruntergeladen hat, kalibrierte. So finden wir problemlos Odessa. (Hätten wir auch sonst gefunden, denn es führt nur eine Strasse in diese Richtung!)
Schon ist wieder eine Woche vorbei, Zeit, unseren Wochenbericht samt Fotos zu übermitteln. Das vom Reiseführer Lonely Planet angegebene Internetkaffee gibt es nicht mehr. Ich frage – selbstverständlich auf russisch – Passanten danach. Einer weist in eine Richtung, der andere sagt, es sei geschlossen. Ich wage mich trotzdem in das Kellerloch. Bobo meint: „... in so einer Räuberhöhle?“ Er folgt mir trotzdem. Tatsächlich gibt es da an die zwanzig Computerarbeitsplätze. Fast an jedem Platz sitzt jemand und – spielt. Das Internet braucht niemand. Uns wird auch klar warum. Auf der bilingualen Tastatur lässt sich nur in lateinischer Schrift schreiben. Nach einigen Versuchen und den Rückfragen von mir an den Chef gelingt es Bobo (die Menüs sind in russischer Sprache – es handelt sich um eine russische Version des Windows) den Reisebericht zu übermitteln. Es funktionierte nur mit swissonline, nicht aber mit yahoo.
Nun sind wir frei für die Stadtbesichtigung. Wir steigen vom Hafen her die Puschkin Treppe hoch; gehen hin und her; finden irgendwann die im Lonely Planet erwähnte „Pasazh“, eine Einkaufspassage in barocken Gebäuden von 1898. Die Sprachverwirrung ist komplett. Wurde doch das französische Wort ‚Passage' von den Ukrainern übernommen, wohlgemerkt in kyrillischer Schrift (пассаш), und danach von Lonely Planet ins englische übersetzt. Dies führte dann zum Wort ‚Pasazh'!
Ich möchte unbedingt noch die Katakomben unterhalb des Kunstmuseums sehen. Sir James findet das Gebäude nicht gerade auf Anhieb. Aber, das wissen wir aus Erfahrung, wer lange genug sucht, der findet. Die Suche lohnt sich. Nicht nur wegen der Katakomben. Sondern besonders wegen der äusserst freundlichen Führung der Museumsdirektorin. Wie sich herausstellt, spricht sie etwa so viel deutsch, italienisch und englisch zusammen, wie ich russisch, das heisst, fast gar nicht. Aber mit den zehn Worten, die sie mehr oder weniger kann, erzählt sie uns nicht mehr enden wollende Geschichten über die Aristokratie. Die Gesellschaft war derart snobistisch, dass sie ihre Fress- und Saufgelage in den Katakomben unter künstlich gebauten Stalaktiten abhielten. Ein Geheimgang von einem Kilometer Länge führte vom Palast des Vorontsov zum Palast von Sophia und diente als Liebesverbindung. Im Zweiten Weltkrieg diente dieses Labyrinth unterirdischer Gänge von insgesamt dreissig Kilometern Länge den Partisanen als Versteck.
Die Stadt Odessa selbst zu beschreiben fällt mir schwer. Teilsweise scheint die Stadt vor 80 Jahren stehen geblieben zu sein. Andererseits gibt es alles zu kaufen: Armani, Zara ... Auch die Autos könnten unterschiedlicher nicht sein. Da gibt es den uralten Wolga und Lada, aber auch den teuren Porsche Cayenne oder den neuesten Toyota Landcruiser und jede Menge grosser Mercedes. Odessa ist auf Sand gebaut. Das merkt man auch am Strassenzustand. Es gibt riesige Löcher im Belag.
Am späteren Nachmittag fahren wir aus Odessa hinaus Richtung Osten. Und Bobo fährt und fährt und fährt. Wir erst gegen 19:00 Uhr finden wir abseits der Hauptstrasse hinter Büschen eine Übernachtungsmöglichkeit. Viel später kommt der Bauer mit seinem Traktor und einer Landmaschine vorbei. Ich frage ihn, ob wir hier übernachten dürften. Wohlweislich habe ich diesen Satz auf russisch gelernt. Er hat nichts dagegen. Und schon passiert es. Eine Unachtsamkeit von mir und der ganze Odessa Spusme fliesst anstatt in unsere Kehle über den Boden von Sir James. Schade!